Der ehemalige Journalist und Werbefilmer Claude Degoutte begleitet die Pariser Street-Art-Szene seit ihren Anfängen mit seiner Kamera. Als Autor mehrerer Bücher, in denen er seine zahlreichen Fotografien zusammenfasst, durchstreift er die Hauptstadt immer wieder auf der Suche nach neuen Kunstwerken. Wir haben ihn anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Buches „Paris Street-Art: La mémoire des lieux“ getroffen, das im Verlag Omniscience erschienen ist.
Street-Art ist heute in vielen Vierteln von Paris zu finden. Aber wann und wo ist sie entstanden?
In Paris gab es zwei Vorreiter der urbanen Kunst: Gérard Zlotykamien, der ab 1963 schwarze Formen auf die Wände der Stadt gezeichnet hat, und Ernest Pignon Ernest, der 1971 ein Werk als Hommage an die Episode der Commune auf den Stufen zur Basilika Sacré-Cœur de Montmartre angebracht hat. Eine weitere Figur ist der Künstler Blek le Rat, der die Idee hatte, die Schablonentechnik anzuwenden, die schnell ist und es ihm ermöglicht, seine Werke zu vervielfältigen. Er hat im XIV. Arrondissement gewohnt, wo er auch viel gearbeitet hat. Die Street Art ist dann in den 1980er-Jahren auf die Palisaden der Baustelle des Centre Pompidou und nach Stalingrad ausgeschwärmt, wo es damals ein großes, bei Graffiti-Künstlern beliebtes Ödland gab [heute nicht mehr vorhanden, Anm. der Redaktion].
Wann haben Sie begonnen, sich für diese Szene zu interessieren?
Ich habe 1977 mit dem Fotografieren angefangen, und da ich im XIV. Arrondissement wohnte, habe ich bald die Anfänge der urbanen Kunst fotografiert. Als Journalist habe ich ihr auch eine Reihe von Artikeln gewidmet, z. B. in der Zeitschrift „Pilote“, wo ich mich mit der Verbindung zwischen Street Art und Comics auseinandergesetzt habe.
Wo blüht die Street Art heute in Paris?
Das XIII. Arrondissement hat eine wichtige, anerkannte Szene. Sein Bürgermeister Jérôme Coumet ist ein großer Liebhaber von Street Art und hat daher eine recht laxe Politik entwickelt, was die Entfernung von Kunstwerken betrifft, in erster Linie in der Butte aux Cailles. Die Künstler wissen, dass ihre Werke dort eine lange Zeit bleiben werden. Anschließend hat die auf Street Art spezialisierte Kunstgalerie Itinérance internationale Künstler eingeladen, sich auf den Wänden der Hochhäuser am Boulevard Vincent Auriol zu verewigen. Dadurch hat dieser Teil der Stadt die meisten Kunstwerke in XXL-Größe. Anfang der 2010er-Jahre gab es auch die Initiative „Tour 13“, die ein zum Abriss vorgesehenes Wohnhaus eine Zeit lang mit Künstlern besetzt hat. Schließlich gibt es heute unter der Périphérique den „Spot 13“, der wie ein „Museum unter freiem Himmel“ ist.
Die Pariser Street Art ist mittlerweile Gegenstand zahlreicher Reiseführer und auch von touristischen Besichtigungen. Was möchten Sie mit Ihrem neuesten Buch dazu beitragen?
In diesen Führungen und Besichtigungen werden oft die gleichen großen, renommierten Künstler hervorgehoben. Im Gegensatz dazu veröffentliche ich mit meiner täglichen Beobachtung aller Geschehnisse gerne die Werke junger Künstler, die noch am Anfang stehen. Die zweite Idee ist, nicht nur diejenigen anzusprechen, die sich bereits für Street Art interessieren, sondern alle, die mehr über die Stadt erfahren möchten.
In Ihrem Buch betonen Sie in der Tat den Begriff der „in situ“-Kunst. Können Sie erklären, was Sie mit diesem Ausdruck bezeichnen?
In den verschiedenen Stadtvierteln von Paris gibt es heute eine Fülle von Street Art-Werken. Ich finde jedoch, dass dieser Anhäufungseffekt den Künstlern eher schadet. Daher fand ich die Idee von einzigartigen Werken interessant, die mit dem Ort in Resonanz treten, an dem sie aufgestellt sind.
Sie erzählen unter anderem die Geschichte eines Werkes über den amerikanischen Schriftsteller Henry Miller...
Ein Pariser Künstler, der Schablonen von seinen Lieblingspersönlichkeiten herstellt, hatte eine von Henry Miller in einem Pariser Stadtteil angebracht, zu dem der Schriftsteller keine besondere Bindung hatte. Ich rief den Künstler an und sagte ihm, dass ich das für abwegig hielt, und lud ihn ein, eine Schablone dort anzubringen, wo Miller gelebt hatte. Das Werk ergab dann einen Sinn. Und damit die Leute es verstehen oder vertiefen, gehen wir sogar so weit, dass wir QR-Codes direkt vor Ort einbauen.
In meinem Buch gibt es ebenfalls QR-Codes, damit die Leser noch mehr Hintergrundinformationen bekommen, – unter anderem von den Künstlern selbst, die ihre Werke kommentieren. Die Idee ist nicht, einen Rundgang anzubieten, sondern vielmehr Ankerpunkte, die es Interessierten ermöglichen, Paris aus einem anderen Blickwinkel zu entdecken.
— Claude Degoutte, der den Instagram-Account @10000pas betreibt, wird seine Fotos im Oktober in der Bibliothek Glacière ausstellen. Außerdem gibt er am 9. September in der Street-Art-Galerie Lavomatik eine Signierstunde.