Julien ist dreizehn Jahre alt und zieht mit seinen Eltern von Rennes nach Paris. Immer mit dabei sein Papagei Arthur! Wem das alles jetzt schon bekannt vorkommt, weiß genau, in welche Straße Julien mit seiner Familie und Arthur gezogen ist: in die berühmte Rue Daguerre. Umso mehr könnt ihr euch meine Überraschung vorstellen, als Arthur (mein Freund, nicht mein Papagei) und ich in unseren ersten Wochen in Paris zufällig in die „echte“ Rue Daguerre gelaufen sind, und Arthurs komplettes Unverständnis für meinen urplötzlichen Nostalgieausbruch. Denn wie so viele andere Kinder und Jugendliche der 1990er- und 2000er-Jahre bin auch ich auf dem Gymnasium mit dem Französischbuch „Découvertes“ zum ersten Mal in die Sprache eingetaucht, das die Geschichte von Julien und seinem neuen Leben in der Rue Daguerre erzählt.
Doch auch für alle, die ohne „persönlichen“ Bezug nach Paris kommen, ist die Rue Daguerre einen Besuch wert. Durch ihrer Nähe zum Tour Montparnasse, dem Cimetière Montparnasse und den berüchtigten Katakomben kann man sie gut in einen kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt einplanen. Tagsüber locken vor allem die zahlreichen Boutiquen, Bäckereien, Blumenläden, Feinkostläden, Lebensmittelhändler à la Monsieur Saïd (dem Obst- und Gemüseverkäufer aus „Découvertes“) und Cafés in die Rue Daguerre. Abends sind es die Bars und internationalen Restaurants von Vietnam und der Île de la Réunion bis Marokko und Algerien.
Benannt nach dem Maler Louis Daguerre, der das erste vermarktbare fotografische Verfahren, die Daguerreotypie, erfand, reicht die Geschichte der Straße bis ins 18. Jahrhundert zurück, als sie noch zur Gemeinde Montrouge gehörte. Seit dem 20. Jahrhundert ist sie vor allem ein beliebter Wohn- und Arbeitsort für Künstler wie Regisseurin Agnès Varda oder Bildhauer César. Im berühmten Studio Daguerre in der Nummer 56 wurden Fotografen wie Jean-François Lepage und Peter Lindbergh ausgebildet und Stars wie Naomi Campbell, Monica Bellucci oder Dita Von Teese waren zu Gast. Sänger und Gitarrist Jimi Hendrixs kurzes Video, in dem er den Alltag der Bewohner auf den Kopf stellt, dient ebenso als wunderbares Zeitzeugnis, wie die 1974 vom ZDF in Auftrag gegebene Dokumentation „Daguerréotypes“ von Agnès Varda. Darin porträtiert die Regisseurin ihre Nachbarschaft und besucht Geschäfte wie die ehemalige Parfümerie Chardon Bleu, in der die Düfte noch vor Ort hergestellt wurden.
An diese Zeit kann sich auch Juliette noch erinnern. 1977 eröffnete sie in der Hausnummer 73 die Disco- und Pianobar „Express 14“, lud Sänger wie Marc Lavoine und David Reinhardt, Enkel von Django Reinhardt, ein, veranstaltete Hula-Hoop-Wettbewerbe und stellte ihre eigene Kunst aus. Jetzt sucht die heute 80-Jährige einen Nachmieter für ihr Kultlokal. „Ich bin müde“, gesteht sie uns. „Ich möchte die Bar abgeben und dann in den Süden ziehen.“ Sie sei sehr traurig, aber sie könne nicht mehr. Außerdem habe sich die Straße in den letzten Jahren stark verändert, sagt sie. Wie viele andere Viertel und Straßen in Paris ist auch die Rue Daguerre von der Gentrifizierung betroffen und verliert immer mehr den nachbarschaftlichen Zusammenhalt von früher.
Ihren Charme aber hat sie sich bis heute erhalten und dient immer noch als beliebter Treffpunkt zum Bummeln, Einkaufen und Essen für Pariser. Aber nur die deutschen Touristen wissen, dass hinter den Türen der Rue Daguerre Julien mit seinem Papagei Arthur lebt.