Im Norden von Paris, im 20. Arrondissement, erinnert die Rue des Vignoles mit ihrem Namen an den Weinanbau, den die Bewohner hier früher betrieben haben. Von dort gehen etwa fünfzehn kleine Sackgassen ab, in denen am Ende des 19. Jahrhunderts viele Arbeiterwohnungen gebaut wurden und damit ein Viertel entstanden ist, das im 20. Jahrhundert zu einer Hochburg der Gewerkschaften und sozialen Kämpfe wurde. In dieser bis heute alternativ gebliebenen Atmosphäre befindet sich die kleinste Pariser Bibliothek, die gleichzeitig eine Art Museum der Subkulturen ist: das Fanzinarium.
Das Fanzinarium wurde 2019 eröffnet und besteht aus einem einzigen Raum, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Dort stapeln sich auf der einen Seite Kartons und kleine Druckmaterialien, auf der anderen Seite ist eine Wand mit Regalen bedeckt. Einige Stühle bilden einen Lesebereich. Am Tresen begrüßen uns zwei Freiwillige – Coxs und Guillaume – herzlich und bieten uns sofort ein Bier an. Sie leiten eine der beiden wöchentlichen Sprechstunden dieser Vereinsbibliothek, die sich den „Fanzines“ widmet, kleinen, nicht kommerziellen, selbst hergestellten und –verlegten Zeitschriften.
„Es ist schwer zu definieren, was ein Fanzine genau ist, weil es so viele verschiedene Szenen gibt“, sagt uns Coxs. Es gibt Zines, die sich mit Filmen und ihren verschiedenen Genres, mit Musik, Mangas, Poesie oder Comics beschäftigen. In den 80-er und 90-er Jahren waren sie in Frankreich sehr beliebt, verschwanden aber mit dem Aufkommen des Internets fast vollständig, bevor sie seit etwa zehn Jahren wieder aufleben und sich neuen Themen wie Ökologie oder Feminismus widmen: „Was Fanzines auszeichnet, ist die Aneignung eines Themas durch das Publikum, das nicht nur konsumorientiert bleibt. Das entspricht der Ethik des ,do it yourself’“, erklärt Guillaume. Aus dieser Perspektive sind die Unschärfe und die Vielfalt der Formen und Themen, die Fanzines umgeben, kein Problem, ganz im Gegenteil: „Wenn es eine einfache und endgültige Definition gäbe, würde das leider bedeuten, dass sich die Produktion in einem gewissen Grad dem Akademismus angeschlossen hat“, fügt er hinzu.
Im Fanzinarium warten 6.000 Publikationen darauf, von den Lesern vor Ort eingesehen zu werden – es ist nicht möglich, sie auszuleihen, geschweige denn zu kaufen. Gelbe Themenboxen erleichtern ihnen die Entdeckung des Bestands, der ursprünglich aus den persönlichen Sammlungen der vier Gründer bestand, zu denen auch Coxs gehörte: „Es war ein bisschen wie ein Traum, eine solche Bibliothek zu haben. Wir hatten alle große Sammlungen und wollten sie interessierten Menschen zur Verfügung stellen“, erzählt sie. Nachdem sie vergeblich nach einem passenden Ort gesucht hatten, fanden sie diesen in der ehemaligen Schuhmacherei eines der Gründer. Eine Vergangenheit, die an den Wänden mit Siebdrucken, die Schuhe illustrieren, noch sichtbar ist.
Nach und nach werden die anfänglichen Sammlungen durch Schenkungen aus anderen Sammlungen oder die Hinterlegung eigener Fanzine-Produktionen durch Besucher ergänzt. „In der Fanzine-Szene gibt es, wie in vielen anderen Underground-Szenen, keine wirkliche Hierarchie zwischen denen, die Zines erstellen, und denen, die sie lesen“, betont Guillaume. „Wir kommen selbst aus diesem Milieu und die Fanzine-Schöpfer haben den Nutzen eines solchen Ortes zum Aufbewahren und Nachschlagen gut verstanden“, ergänzt er.
Das Fanzinarium bringt nicht nur Zine-Liebhaber in seinen Räumlichkeiten zusammen, sondern organisiert auch zahlreiche Veranstaltungen außerhalb, z. B. „Barzines“, bei denen sich die Gemeinschaft in Bars trifft und sich am Leben in der Nachbarschaft beteiligt. Außerdem gibt es Künstlern freie Hand, ihre Werke in seinem Schaufenster ausstellen zu können und beherbergt den Verein „Les amis de l’imprimé populaire“, der in alten und aktuellen Drucktechniken wie Siebdruck oder Gravur ausbildet.
Das Fanzinarium ist einzigartig in Paris, aber nicht die einzige Bibliothek dieser Art in Frankreich. Es unterhält Verbindungen zur historischen Fanzinothèque in Poitiers und anderen ähnlichen Orten in Bordeaux, Toulouse oder Marseille. Gemeinsam planen sie übrigens, ihre Datenbanken zu vernetzen, um die Suche nach Fanzines zu erleichtern. Über Frankreich hinaus ist das Fanzinarium auch mit anderen Bibliotheken in Quebec, Portugal und auch in Deutschland verbunden. In Berlin ist die Szene besonders aktiv mit dem Shikki Mikki, der Comicbibliotek Renate oder dem Archiv der Jugendkulturen. Alle haben das gleiche Ziel, nämlich „die Geschichte dieser Kultur selbst zu schreiben, nicht von außen schreiben zu lassen“, schließt Guillaume.